Was früher war, das wirkt bei manchen Zeitgenossen identitätsstiftend. Das bezeugt der aktuelle Boom, den die Familienforschung erlebt. Davon abgesehen spüren Wissenschaftler einem genetischen Gedächtnis nach. Schreiben sie den Deutschen doch zu, auch 400 Jahre nach dem 30-jährigen Krieg an einem kollektiven Trauma zu leiden. Auch die Hyperinflation vor 100 Jahren soll den heute Lebenden in den Knochen stecken.
Doch nicht nur Geschichte kann prägenden Einfluss gewinnen - auch Geschichten. Eine, die in Sittensen nach wie vor gerne verbreitet wird, geht so: Karl der Große hat um das Jahr 797 den Grundstein der Sittenser Kirche gelegt und die Anlage einer Wallburg, den Königshof, verfügt. Da für Ersteres keine Beweise vorliegen, ordnen Historiker dieses Kapitel ins Reich der Spekulation ein. Das zweite Kapitel ist hingegen mit Sicherheit eine Mär. Vor acht Jahren haben Archäologen herausgefunden, dass der Franke Karl am Ufer der Oste, mitten im Sachsenland, keine Burg hat anlegen lassen.
Archäologen finden keine Spuren von Karl
König Karl ist in der Gegend gewesen. Das steht fest. Hat er Sachsen doch zwischen 772 und 804 mit Krieg überzogen. Quellen belegen, dass sich Karl 795, 797 und 804 in Hollenstedt aufgehalten hat. Darauf verweist der Historiker Michael Ehrhardt in seiner 2019 erschienenen Chronik „Die Börde Sittensen“.
Vielleicht, eventuell, möglicherweise ist Karl während seiner Kreuzzüge gegen die heidnischen Nachbarn im Norden durch die Börde Sittensen geritten. Vielleicht, eventuell, möglicherweise haben die Truppen die Oste an der Furt unweit der Stelle durchquert, an der Archäologen nach Spuren aus dem frühen Mittelalter gesucht haben.
Hans Heinrich Seedorf, Wilhelm Vieths und Maike Schmidt gehen in ihrer 2014 erschienenen Geschichte der Börde Sittensen von der Vermutung aus, dass Karl eben diese Furt und damit seinen Nachschubweg habe sichern wollen, indem er den Königshof habe anlegen und befestigen lassen. Darüber hinaus halten sie es für wahrscheinlich, dass die Anlage der Truppenversorgung gedient hat. Das Trio nimmt an, der fränkische Feldherr sei 797 und 804 höchstselbst in Sittensen gewesen.
Kein Beleg für die Kirchengründung vor 1.200 Jahren
Weil Karl seinen Krieg gegen die Sachsen auch im Namen des Herrn führte und die überlebenden Heiden in den Schoß der römischen Kirche legen wollte, schließen Seedorf, Vieths und Schmidt, der König habe neben seinem Stützpunkt eine Kirche gegründet. Sie stützen ihre Annahme auf das Indiz, dass die Sittenser Kirche dem karolingischen Hauspatron, dem Heiligen Dionysius, geweiht wurde. Die drei Lokalpatrioten räumen indes ein, dass es an urkundlichen Belegen fehlt.
Auf eben solche stützt sich Michael Ehrhardt, indem er darauf verweist, dass die Sittenser Kirche erst 1220 erstmals in einer Urkunde Erwähnung findet. Die erste schriftliche Quelle, in der Sittensen als Ortschaft genannt ist, ist 200 Jahre älter.
Und die Wallburg? Grabungen der Rotenburger Kreisarchäologie und der Universität Göttingen haben vor neun Jahren zu der Erkenntnis geführt, dass die Wallanlage, also der Königshof, nicht aus der Zeit Karls des Großen stammt, sondern jüngeren Datums ist. Die mutmaßliche Zufluchtsstätte für die Bewohner der Gegend entstand auf dem Gebiet einer germanischen Siedlung.
Es gab also eine germanische Siedlung und eine Wallburg aus frühchristlicher Zeit. Aber einen Königshof? Die Annahme, dass es sich bei dem in einer päpstlichen Urkunde aus dem Jahr 1208 unter den Besitztümern des Klosters Harsefeld aufgeführten Königshof um den Sittenser handelt, widerlegt Michael Ehrhardt. Das gleichnamige Gut liegt im Gebiet des heutigen Fleckens Harsefeld.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Sittenser Königshof zu den Lehen der Ministerialenfamilie Schulte zählte.
500 Jahre Kaiser auf dem Königshof
Als sicher kann gelten, dass der Königshof an der Oste neben dem Hof Nüttel, der zum Besitz des Klosters Harsefeld gehörte, zu den größten Höfen in der Börde Sittensen zählte. Der Sittenser Heimatkundlerin Helga Hink ist es ein Anliegen, die herausgehobene lokalgeschichtliche Bedeutung des links der Oste gelegenen Königshofes hervorzuheben. Seit bald 500 Jahren ist der Hof mit dem Namen Kaiser verbunden.
Seit 17 Generationen sind Träger dieses Namens als Hofinhaber verbürgt. Als erster ist laut Hink Bauer Heyne Keyber im Jahr 1536 verbrieft.
Die Kaisers hatten zwar erbliche Rechte an Haus und Hof, doch Eigentümer waren sie nicht. Das änderte sich erst vor rund 170 Jahren, als Johann Christian Kaiser dem Baron Alexander von Schulte eine Ablösesumme zahlte und damit vom Meier zum Hofeigentümer wurde.
Helga Hink verweist zudem darauf, dass Mitte des 19. Jahrhunderts drei Familien auf dem Königshof lebten: Neben den Kaisers waren dies Familie Peter Brunkhorst und Familie Hinrich Hollmann - Vorfahren von Helga Hink. Heute wird auf den Ländereien Golf gespielt. Die Landwirtschaft gab Johann Kaiser 1996 auf. Der Name Königshof hat Bestand. Die Zuwegung ist ihm gewidmet, das Freibad und der Golfclub nennen sich nach ihm.

Die zweite Generation, die den Königshof ihr Eigentum nannte: Johann Peter Kaiser - geboren 1849. Foto: Hink

Helga Hink zählt zu den wandelnden Geschichtsbüchern in Sittensen. Sie müht sich nimmermüde, um lokalhistorische Geschichten und Geschichte zu bewahren. Foto: Baraz