Wenn Katja gefragt wird, wie viele Kinder sie hat, dann sagt sie: „Vier. Drei an der Hand und eins im Himmel.“ Die junge Frau greift in ihre Tasche. Sie schaut nicht, wohin ihre Hand wandert. Sie tastet nicht, sondern zieht treffsicher etwas Rotes aus dem Innern des Beutels. Das Stück Tonpapier in ihrer Hand ist mehrfach gefaltet und geklebt. Die Klebekanten sind unsauber und die Schrift auf dem papierenen Viereck etwas krakelig. „Mir gehts gut Mama“ steht ganz unten.
Mit ihren Fingern streicht Katja über die Buchstaben. „Das hat meine Tochter geschrieben“, sagt sie und schiebt nach: „Ich weiß, da sind ganz schön viele Rechtschreibfehler drin, aber für mich ist das ein Schatz.“ Ihre Jüngste hat ihr diese Zeilen geschrieben. Zum Muttertag und stellvertretend für die kleine Schwester, die nicht mehr lebt.
Matilda ist still geboren. Kein Schrei, kein Weinen, nichts. Als das Mädchen in der 23. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt, bleibt es ruhig im Kreißsaal. Die Tochter von Katja und Benjamin ist ein Sternenkind. So werden Kinder genannt, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben. Die Eltern bleiben zurück. Verletzt und verletzlich. Sie stehen an einer Schwelle, sind Mutter und Vater und müssen ihr Kind doch gleich wieder loslassen.

„Das hat meine Tochter geschrieben“, sagt sie und schiebt nach: „Ich weiß, da sind ganz schön viele Rechtschreibfehler drin, aber für mich ist das ein Schatz.“ sagt Sternenkind-Mama Katja. Foto: Saskia Harscher

Fotos, gemalte Bilder oder kleine Briefbotschaften. Die drei älteren Geschwister beziehen ihre verstorbene Schwester immer mit ein. „Matilda ist immer bei uns“, sagt Sternenkind-Mama Katja. Foto: Saskia Harscher
Schwangerschaft war anders
Niemand könne sich auf so etwas vorbereiten und niemand, der es nicht selbst erlebt hat, könne sich vorstellen, wie es sich anfühlt, sagt Sascha. Er und seine Frau Insa sind ebenfalls Sternenkind-Eltern. Tochter Yara hatte nur wenig Zeit, um im Bauch ihrer Mutter zu wachsen. Dass etwas nicht stimmte, habe sie gespürt. „Es war anders“, sagt Insa. Anders als damals, als sie mit ihrem heute drei Jahre alten Sohn schwanger war. Ein offener Bauch und Trisomie 18. Die Diagnose der Ärzte bestätigt das, was Insa bereits spürte: Ihre Tochter wird nicht leben können. In der 19. Schwangerschaftswoche kommt das Mädchen zur Welt. Winzig klein. Sascha zeigt auf sein Telefon. „Nur so groß wie ein Handy.“ Der Tag ihrer Geburt ist auch der Tag, der als ihr Sterbedatum dokumentiert ist.
„Yara heißt Befreiung“, sagt Insa und ergänzt: „Für sie war es auch eine Befreiung.“ Für die Eltern ist es ein Schock, ein Taumeln. Es ist das Ende einer Zeit, in der sie nicht aufhörten zu hoffen und der Anfang von einem Leben ohne ihre Tochter.
Sie sitzen zusammen mit Katja und Benjamin in ihrem Wohnzimmer. Die vier begrüßen den Besuch, mit dem sie in den nächsten Stunden sprechen wollen. „Reden ist so wichtig“, sagt Sascha. Aber die Leute sprechen nicht gerne über den Tod, haben sie gemerkt. Erst recht nicht über tote Kinder. Das macht vielen Angst. Die Betroffenen macht diese Sprachlosigkeit einsam. Gespräche, die verstummen, oder Bekannte, die den Blick abwenden. Das tut weh. Die jungen Eltern wollen das ändern. Sie wollen reden und dem Thema das Tabu nehmen. Wenigstens das, denn den Schmerz könne niemand nehmen.

Das Grabfeld für Sternenkinder auf dem Friedhof in Tarmstedt ist den Eltern wichtig. So haben auch die Geschwister die Möglichkeit, ihre Schwester zu besuchen und Hallo zu sagen, wann immer sie wollen, sagen die Sternenkind-Mütter Katja (links) und Insa. Foto: Saskia Harscher
„Sie war tot, aber sie hat gelächelt“
Ein Auf und Ab, so beschreiben Katja und Benjamin die Zeit von dem Moment an, als klar wird, dass ihre kleine Tochter sehr wahrscheinlich nicht überleben wird. „Bei uns gab es ja immer noch Hoffnung“, sagt Benjamin. Er erinnert sich an ein Ultraschallbild, auf dem die krankhafte Wölbung am Körper des Kindes deutlich zu sehen. Als Hygroma Colli wird das Geschwulst bezeichnet. Und trotzdem: Man könne vorsichtig optimistisch sein, hört Katja von ihrem Arzt.
Doch es sollte anders kommen. Mehr als vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin macht sich ihre Tochter auf den Weg. So nennen die Eltern den Abschied. Matilda stirbt während der Geburt. „Sie hat es für uns entschieden“, sagen die Eltern heute.
Nachdem Matilda geboren war, muss seine Frau gleich in den OP, erinnert sich Benjamin. Es geht ihr schlecht. Er erinnert sich daran, dass die Hebamme ihn fragt, ob er seine Tochter sehen möchte und wie er erschrocken denkt: „Nein“. Aber hat er es auch gesagt? Er weiß es nicht mehr. Aber er weiß, wie er schließlich aufsteht und zu seiner Tochter geht, wie er sie wäscht, sie anzieht und sie im Arm hält. Das war schlimm und gleichzeitig gut. „Sie hat gegrinst“ sagt Benjamin. „Matilda war tot, aber sie hat gelächelt.“
Insa und Sascha nutzen die Zeit, die ihnen in der Klinik mit Tochter Yara bleibt. Sie halten das Mädchen, Insa schaut sich ihre Tochter so oft an, wie es geht. Sie beschreiben diese Momente als innig und ruhig. Auch, weil das Klinikpersonal sich viel Zeit nimmt. „Die waren total liebevoll“, sagt Insa und schiebt nach: „In dieser scheiß Zeit hat man sich wohl gefühlt.“ Was den Eltern auch hilft, ist die Gewissheit, ihre Tochter „mitnehmen“ zu können. Der Friedhof in ihrem Wohnort Tarmstedt hat als einer von nur wenigen in der Region ein Grabfeld für Sternenkinder. Dort lassen Insa und Sascha ihre Tochter bestatten. Die Familie ist dabei. Der Pastor. Zarte Blüten. Ein Abschied mit ganz viel Würde. Dieser Ort ist für die verwaisten Eltern kostbar. Yara ist ihnen auf diese Weise nahe. Der große Bruder stellt kleine Spielfiguren auf das Grab, fragt seine Eltern viel über seine Schwester. Die erzählen ihm, was er wissen möchte.
Das ist wichtig, glaubt auch Katja. Die Kinder außen vor zu lassen, das gehe nicht, sagt sie. Sie merkt es, als ihre mittlere Tochter plötzlich rebelliert, weint und schreit: „Ich will meine Schwester auch sehen, das dürft ihr mir nicht verbieten.“ Katja zögert kurz, aber dann nimmt sie die Kinder mit zur Bestatterin. Sie hat Angst, weiß nicht, ob es sie alle überfordern wird. Als ihr vierzehnjähriger Sohn die kleine Schwester sieht und bitterlich weint, fühlt sie sich grauenvoll. „Das war das Schlimmste“, sagt sie. Dass es richtig war, merkt sie später zu Hause. Die Kinder malen Bilder, schreiben Briefe, die sie Matilda mitgeben wollen. Außerdem helfen sie mit, den winzigen Holzsarg zu bemalen. Ihr Sohn will, dass alle Geschwisterhände in bunten Farben daraufkommen, erzählt Katja: „Er meinte, so können wir sie alle halten und passen auf sie auf.“
Drei Fragen an ...
Hebamme Cordula Jäger aus Kirchtimke

Hebamme Cordula Jäger aus Kirchtimke. Foto: Saskia Harscher
Welche besondere Unterstützung brauchen Mütter von totgeborenen Kindern? Wichtig ist, die Eltern einfühlsam zu informieren. Sie vorbehaltlos zu begleiten und dabei die kulturellen oder religiösen Hintergründe berücksichtigen. Den Eltern sollte soviel Zeit und Raum gelassen werden, wie sie brauchen, um ihr totes Kind loszulassen, es gebären zu können und zu verabschieden. Hilfreich ist eine kompetente, stützende und mittragende Begleitung, die angst- und vorurteilsfrei ist und die die Phasen der Trauer kennt und zulässt.
Sternenkinder kommen – wann immer möglich – auf natürlichem Weg auf die Welt. Warum ist das für Frauen und auch für die Männer/Partner so wichtig? Es ist ein Prozess der Verabschiedung und ein Teil der bewussten Trauerbewältigung, der heilend sein kann. Die Angst vor dem Unbekannten schwindet. Die Frauen nehmen ihr totes Kind als ihres an, können es so besser gehen lassen – und es trotzdem als ein Teil in ihrer Familie zulassen.
An wen können sich verwaiste Eltern wenden, wenn sie Rat und Hilfe brauchen? Betroffene Eltern können eine Notfallnummer anrufen. Ansprechpartnerin ist die Hebamme und Trauerbegleiterin Christel Gerken in Rotenburg (Tel. 04261/773603). Außerdem gibt es die Runde „Sterneneltern“. Ansprechperson ist Nadine Klockwig (Tel. 04261/773416). Die Koordinatorin des Familienzentrums am Agaplesion Diankonieklinikum in Rotenburg ist auch per E-Mail erreichbar (familienzentrum@diako-online.de.). Ebenfalls gute Adressen finden sich im Internet. Etwa die Initiative Regenbogen – Glücklose Schwangerschaft, www.mein-sternenkind.de oder auch www.sternenzauber-früchenwunder.de.
Foto: Saskia Harscher