Täter möchten durch ihr Verhalten Macht ausüben und kommen oft aus dem sozialen Nahfeld der betroffenen Personen. Geschlecht, Herkunft oder Bildungsniveau spielen dabei keine Rolle: Jeder kann davon betroffen sein. Wer Hilfe braucht, findet diese bei Wildwasser in Rotenburg. Das Beratungsangebot ist kostenlos und kann auch anonym stattfinden. Im Interview erklärt Psychologin Katja Mevenkamp, wie Wildwasser Betroffenen von sexualisierter Gewalt hilft und was jeder selbst tun kann, um sich vor Übergriffen zu schützen.
Wer bekommt bei Wildwasser Hilfe? Bei uns bekommen alle Frauen und Kinder und deren Angehörige Rat, aber auch Fachkräfte, die mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Berührung kommen. Das können auch Erzieher, Lehrer oder Schulsozialarbeiter sein. Leider fehlt uns im Landkreis Rotenburg eine Beratungsstelle für männliche Betroffene. Wir können minderjährige Jungen beraten, aber Erwachsene verweisen wir an die Männerberatungsstellen in Hannover, Bremen und Hamburg.
Was ist überhaupt sexualisierte Gewalt? Sexualisierte Gewalt ist körperliche und psychische Gewalt in Form von sexuellen Übergriffen und Grenzüberschreitungen. Das geht von verbalen Belästigungen bis hin zu Vergewaltigung. Und weil es so ein großer Bereich ist, ist es für Betroffene schwer, das klar einzuordnen. Zum Beispiel ist in unserer Gesellschaft so etwas wie Catcalling (anzügliches Rufen oder Pfeifen in der Öffentlichkeit, Anm. der Red.) recht üblich und wird bagatellisiert.
Gehören leichte Berührungen in der Schule oder am Arbeitsplatz dazu? Ja genau, oder anzügliche Sprüche. Es ist leider so, dass im Alltag viel sexualisierte Sprache vorhanden ist. Es gibt den anzüglichen Witz, den alle wirklich lustig finden. Aber sobald sich jemand darüber beschwert und nicht ernst genommen wird, entsteht das Problem und der erste schädliche Glaubenssatz, dass die eigenen Gefühle nicht richtig sind. Genau das kann dann von Tätern ausgenutzt werden.
Haben meistens Frauen das Problem? Es passiert meistens Frauen, ja. Männer, die von Übergriffen betroffen sind, haben noch ein zusätzliches Problem, denn sie werden in der Gesellschaft stigmatisiert und zum Beispiel als „Weichei“ bezeichnet. Sprüche wie „Was für ein toller Hecht bist du denn, dass du von einer Frau vergewaltigt wurdest?“ kommen vor. Das ist ein Tabuthema und hat eine ganz eigene Dynamik mit einer mutmaßlich sehr hohen Dunkelziffer.
Wo passiert diese Art von Gewalt am häufigsten? Unsere Zahlen aus 2020 sagen, 76 Prozent der Täter stammen aus dem sozialen Nahbereich, von den restlichen 24 Prozent wird die Hälfte nicht benannt und das meist, weil sich die Betroffenen nicht trauen, Namen zu nennen. Es gibt demnach nur einen geringen Teil an Fremdtätern. In dem Zusammenhang möchte ich ansprechen, dass es sogenannte Täterstrategien gibt, die einzig und allein den Zweck haben, es den Betroffenen schwerer zu machen, sich Hilfe zu holen.
Was meinen Sie damit? „Wenn du etwas sagst, dann tue ich deiner Katze etwas an“ zum Beispiel. Die Betroffene bekommt Angst und hat vielleicht das Gefühl, dass ihr niemand glaubt, sich die Freunde oder Familie abwenden oder ihr sogar die Schuld gegeben wird für das, was passiert ist. Solche Ängste und natürlich auch die Scham werden von Tätern ausgenutzt. In der breiten Gesellschaft geht das Bild vom pädophilen Fremden um, der sich die Kinder von der Straße schnappt. Diese Täterdemografie gibt es, aber angesichts der tatsächlichen Daten ist sie verschwindend gering. Die fremden Täter werden auch viel öfter gefasst, angeklagt und auch verklagt. Die große Dunkelziffer von Tätern, die gar nicht erst benannt werden, ist überwiegend im Nahbereich zu finden.
Was steckt dahinter? Pädophilie ist selten die Motivation der Täter. Die große Mehrheit begeht die Taten aus einer Machtfantasie oder Machtausübung heraus. Es werden Machtgefälle ausgenutzt. Beispiel: Eine Frau, die finanziell abhängig ist von ihrem Partner, oder Erwachsene agieren gegen Kinder, Arbeitgeber versus Arbeitnehmer. Hier gibt es alle möglichen manipulierenden und kaschierenden Methoden, damit Betroffene schweigen.
Meistens sind Frauen und Mädchen Opfer von sexualisierter Gewalt. Wie denken Sie als Beraterin darüber? Das zeigt, dass wir nach wie vor ein gesamtgesellschaftliches Problem haben, das bewusst oder unbewusst das Gefühl vermittelt, Gewalt gegen Frauen sei okay. Das ernüchtert und frustriert. Prävention und Enttabuisierung sind da das A und O. Es muss mehr über das Thema gesprochen werden. Ich merke, es geht ein Ruck durch die Gesellschaft und die Richtung wird richtig. Aber es ist noch ein langer Weg.
Was macht das mit Frauen und Mädchen, wenn sie zum Opfer geworden sind? Übergriffe sind breit gefächert, Menschen gehen sehr unterschiedlich mit potenziell traumatisierenden Ereignissen um. Manche leiden unter starker PTBS-Symptomatik (Posttraumatische Belastungsstörung) und brauchen ein umfangreiches Hilfenetzwerk. Und dann gibt es Leute, interessanterweise häufig Kinder, die darüber einmal sprechen und dann benennen sie das Thema nicht mehr. Bei der Bewältigung von solch einem schlimmen Ereignis hilft eine wertschätzende und unterstützende Reaktion von Freunden und Familie dabei, die Entwicklung einer PTBS zu vermeiden.
Welche Altersgruppen sind besonders von sexualisierter Gewalt betroffen? Vom Babyalter bis 70 Jahre und älter. Im Jahr 2020 kamen hauptsächlich erwachsene Betroffene, die in ihrer Kindheit und Jugend von sexualisierter Gewalt betroffenen waren, zu uns.
Wie oft wird Wildwasser Rotenburg um Hilfe gebeten? Im Jahr 2020 wurden uns 134 Fälle sexualisierter Gewalt bekannt. Zusätzlich haben wir aber auch noch die dazugehörigen Parteien wie die Angehörigen oder Fachkräfte beraten.
Und wenn sich jemand meldet, dann ist meistens was passiert? Die meisten Fälle sind Verdachtsfälle zum Kindesmissbrauch. Da melden sich dann Angehörige oder Fachkräfte in Bezug auf ein Kind. Gemeinsam gehen wir die nächsten Schritte durch, die hilfreich sein können, wobei wir von Kurzschlussreaktionen abraten, denn damit kann man dem Kind tatsächlich sogar schaden. Im schlimmsten Fall erfährt der Täter, dass er unter Verdacht steht und übt womöglich noch mehr Druck auf das Kind aus. Den nächstgrößeren Teil der Fälle machen die direkt Betroffenen aus. Da geht es dann um sexuelle Übergriffe, meist Vergewaltigungen, und Missbrauch in der Kindheit.
Wie läuft die Beratung bei Ihnen ab? Im ersten Gespräch dürfen die Betroffenen erst mal in Ruhe ankommen und ihre Situation schildern. Dann schauen wir gemeinsam, wie es weitergeht und ob wir vielleicht sogar noch eine andere Stelle mit ins Boot holen sollten. Wir bieten einen geschützten und wertfreien Raum, wo alle Gefühle und Gedanken Platz haben. Dabei merken wir, dass dies allein oft schon das Heilende ist, weil Betroffene sich in ihrem privaten Umfeld nicht komplett anvertrauen können oder wollen. Unser Angebot ist niedrigschwellig, wir ersetzen keine Therapie, arbeiten aber mit Therapeuten zusammen.

In der Wildwasser-Beratungsstelle finden Opfer von Gewalt Unterstützung. Foto: Wildwasser
Geht es denn bei der Bewältigung um Verzeihen? Das ist eine schöne Grundidee. Vergebung als höchstes Gut. Bei vielen Betroffenen ist das aber gar nicht möglich. Die Realität zeigt, dass der Übergriff schlichtweg so massiv ist, der Vertrauensbruch so groß, dass verzeihen auch gar nicht hilfreich ist. Es gibt aber eine Form von Verzeihen, die ich persönlich sehr schön finde. Es gibt oft kindliche Anteile, vor allem bei Frauen, die in der Kindheit missbraucht wurden. Quasi ein Überbleibsel des Kindes, das missbraucht wurde und sich die Schuld am Übergriff gibt oder gar davon überzeugt ist, dass ihm niemand glaubt. In einer imaginativen Übung kann sich die erwachsene Frau ihrem inneren Kind gegenüberstellen und sich, nun als fähige Erwachsene, selbst all das geben, was sie als Kind gebraucht hätte. Dann können sich Klienten selber sagen, „Hey, du warst nur ein Kind, du konntest nichts dafür, du bist nicht schuld, dass der Täter seine Emotionen nicht im Griff hatte und das an dir ausgelassen hat. Dir hat niemand geglaubt und das war eine schreckliche Ungerechtigkeit. Jetzt gebe ich dir die Gerechtigkeit und ich glaube dir.“. Einmal habe ich einen solchen Moment miterleben dürfen und das ist tief in meinem Herzen geblieben.
Schuld hat immer der Täter. Können Sie das bestätigen? Ja. Das Problem dabei ist allerdings, man kann das sagen, aber die Betroffenen müssen das auch fühlen. Vor allem, wenn man häufig, über mehrere Jahre missbraucht wurde, und das Umfeld nicht unterstützend, sondern invalidierend reagiert, – was leider oft der Fall ist – ist es schwierig, diesen gefestigten Glaubenssatz „Ich bin schuld und keiner glaubt mir“ zu durchbrechen.
Was können Frauen und Mädchen vorbeugend tun? Sich noch mehr wehren, andere Kleidung tragen – das ist alles Unfug und hält Täter nicht auf. Das ist absolut absurd und man trägt nicht die Verantwortung für eine Vergewaltigung, weil man einen Rock getragen hat. Was wir machen können, ist Prävention. Idealerweise fängt dies schon im frühen Kindesalter an. Wenn jemand schon früh lernt, dass jeder Mensch die Verantwortung für seine Taten und damit auch deren Konsequenzen trägt, wird er sich später weniger leicht von Tätern die Schuld zuweisen lassen. Das, zusammen mit positiven Glaubenssätzen beugt nicht nur Übergriffen vor, sondern fördert auch ein gesundes Selbstbewusstsein.
Welche sind das? Zum Beispiel „Meine Gefühle sind richtig“, „Mein Körper gehört mir“ und „Mein Nein hat Gewicht“. Bei Kindern sollte man gute und schlechte Geheimnisse erklären. Die Guten lösen Vorfreude aus und die schlechten machen ein blödes Bauchgefühl. Schlechte Geheimnisse darf man brechen, die dürfen erzählt werden. Außerdem gilt, nur weil ich einmal A gesagt habe, muss ich nicht B sagen. Das heißt, wenn ich einmal erlaubt habe, dass jemand mich anfasst, muss ich es nicht erneut zulassen. Dann muss das respektiert werden, denn mein Nein hat Gewicht.
Gelingt der Weg in ein normales Leben meistens, oder sitzt der Schmerz zu tief? Es gibt sehr vielseitige Reaktionen auf so einen Übergriff. Durch unsere Arbeit wissen wir, dass es wichtig ist, noch andere Dinge im Leben zu haben, die einem Freude bereiten. Damit das Leben nicht um das Trauma herum besteht und man selbst nicht darüber definiert wird. Ich nehme da gerne die Metapher vom großen Felsbrocken. Für manche ist so ein Trauma wie ein riesiger Felsbrocken, erschlagend und schwer. Mit Arbeit, etwas Hilfe und Selbstliebe kann man den Stück für Stück kleiner machen. Irgendwann ist es nur noch ein Kieselstein, den steckt man sich dann in die Tasche und jedes Mal, wenn man interagiert mit der Welt, dann weiß man, er definiert mich nicht mehr, ich kann den easy und normal tragen, er erdrückt mich nicht, andere sehen ihn nicht. Und wenn der Schmerz doch mal kommt, dann hat er einen Platz – in meiner Tasche.
Man muss also lernen, damit umzugehen? Genau, und das auf eine Art und Weise, dass man selber glücklich sein kann. Einfach nur aushalten reicht da nicht. Es muss ein Weg gefunden werden mit Hilfen und Tricks, der einem guttut. Es geht dabei nicht darum, Gefühle zu unterdrücken, sondern einen Platz für sie zu finden.
Sie haben als Beraterin schon die schrecklichsten Dinge von Opfern gehört. Was würden Sie den Tätern mal sagen wollen? Jeder Mensch ist verantwortlich für seine Taten und damit auch für das Leid, das man damit hervorruft. Sich aus der Verantwortung rausziehen oder Schuld abwälzen zu wollen, ist einfach nur lügen.