Moin

Wie ein Gerüstbauer im Scheußlichen das Schöne findet und mich Lebenskunst lehrt

Warum wahre Schönheit selbst im Gerüstbau zu finden ist: Meditatives Erlebnis der heutigen Moin-Kolumnistin am Rand einer dröhnenden Baustelle.

Sagt sich ja so leicht: Guck nicht nur auf das Scheußliche - registriere das Schöne. Stimmt ja. Aber zumindest mir geht der Schönheitssinn zwischen all den Scheußlichkeiten zuweilen flöten, nehme vor Missklang die Harmonie nicht mehr wahr. Schon gar nicht im Krachen, Dröhnen, Hämmern des Baustellenkonzert aktuell rings um mein Wohnhaus - diese brutale Geräusch-Kakophonie. Hinterm Haus: Schulbaustelle. Die Ecke rum: Melchior-Schwoon-Baustelle. Bei mir gegenüber: Gerüstbau - da, wo es neulich zwei Mal gebrannt hat. Im Turbotempo kraxeln behelmte Mannen da hoch, bauen ein Stahlkorsett ums Haus. Stangenklirren, Schmettern, Hämmern... Beim Parken dahinter erlebe ich mitten in der Action-Szenerie Verblüffendes: Hinterm LKW voller Gerät rollt ein Arbeiter - jung, robust, behelmt, Handschuhpranken - einen langen Schlauch am Gehweg ab... aber wie! Vertieft in das, was er tut. Bedächtig, hingebungsvoll spult er den rot-grauen dünnen Schlangenschlauch ab und auf dem Boden zu einer großen, gleichmäßig geformten Spirale zusammen, lässt keine Schlaufe, kein Verheddern zu. Da ist nur er, der Schlauch, die Spirale. Männerstimme von oben, drängend und belustigt: „Hey, Henner, du musst damit keinen Schönheitswettbewerb gewinnen, mach zu!“ Er wickelt bedachtsam weiter - eine Passantin hört‘s und ruft: „Aber schön zu wickeln, ist viel schöner!“. Isses. Der Typ hat was von der Kunst des Lebens begriffen, und der grauen Monotonie des Schuftens die Schönheit im Sinn dessen, was er Augenblick für Augenblick tut, abgewonnen. „Was immer du tust, tu es mit ganzem Herzen“, sagen Weise aller Kulturen. Ob der Typ Kurse in Zen-Meditation gibt...?

Susanne Schwan
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