Für einen gewissen Pragmatismus ist Didier Deschamps bekannt. „Wir sind Zweiter, also haben wir unser erstes Ziel erreicht“, sagte Frankreichs Nationaltrainer nach der Gruppenphase.
Das klang ganz so, als sei alles in Ordnung. Womit er natürlich Recht hat: Mit der K.-o.-Runde beginnt ein „neuer Wettbewerb“. Für einen der Favoriten geht es im Achtelfinale gegen Belgien weiter – eine Paarung, die vor EM-Start als mögliches Finale galt. Das passiert, wer nur Gruppenzweiter wird.
Betreibt England auf dem Platz aktive Erholung?
Im Gegensatz zu Spanien und Deutschland haben auch England, Italien oder die Niederlande kaum Akzente mit spielerischer Leichtigkeit gesetzt. Das kann mit dem Modus zu tun haben. Oder der Tatsache, dass deren Spieler zum Großteil aus Topklubs mit einer kräftezehrenden Saison kommen.
Die Engländer erweckten zeitweise den Eindruck, als betrieben die Profis aus der hochbelasteten Premier League in der Vorrunde eine Art aktive Erholung. Harry Kane vom FC Bayern hätte ausgeruhter sein können, doch übte sich der Rekordschütze der „Three Lions“ in Zurückhaltung. Es ist bislang ohnehin kein Turnier der Topstars. Der angeschlagene Kylian Mbappé hat für „Les Bleus“ bloß per Elfmeter getroffen, der mit dem Videobeweis hadernde Romelu Lukaku für die „Red Devils“ noch gar nicht. Dass Rumänien und Österreich ihre Gruppen gewannen, illustriert anschaulich, wie insbesondere jene Nationen, die für eine WM oft nicht die Qualifikation überstehen, diese EM als historische Chance begreifen.
Österreich schaut sich Fan-Videos als Motivation an
Deren Protagonisten berichten, dass sie gar nicht anders können, als den Support als Ansporn zu sehen, ans Limit zu gehen. Rumäniens Trainer Edward Iordanescu geriet ins Schwärmen über 35.000 Landsleute, die Heimatgefühle gestiftet hätten. Österreichs Antreiber Marcel Sabitzer erzählte, dass man sich die Videos als Motivation anschaue: „Wir fühlen uns mit dem Land sehr verbunden: Wenn so viele Österreicher zuschauen, ist das sehr besonders – dann wollen wir etwas zurückgeben.“
Dänemarks Abräumer Pierre-Emil Højbjerg gab sich schier beeindruckt von der Atmosphäre, die vielen Kickern in deutschen Stadien förmlich Beine macht: „Ich muss ehrlich sagen, dass die Stimmung, die Fans, das Land einfach sehr toll sind. Man hat das Gefühl, die Menschen kommen her, um Fußball zu feiern.“
Euphorie schwappt von den Rängen auf den Rasen
Insbesondere nach der für Europa eher verstörenden WM 2022 in Katar, den Covid-Beschränkungen bei der verstreuten EM 2021 ist dieses Turnier endlich wieder eines, bei dem eine Wechselwirkung von den Rängen auf den Rasen schwappt. Ein gut erreichbares Austragungsland im Herzen von Europa ist insofern ein Glücksfall.
Davon hat selbst Georgien profitiert: Die Lust und Leidenschaft ist riesig, bei der ersten Teilnahme zu überraschen. Der Franzose Willy Sagnol ist mit der Devise gekommen: „Wir wollen ganz Europa etwas beweisen.“ Herzerfrischend wirkt seine Herangehensweise, weil Angriff die beste Verteidigung ist. Auch die Slowakei hat mit dem Italiener Francesco Calzona einen, der eine andere Mentalität verankert hat: „Wir wollen immer offensiv sein.“ Der Lohn ist das Achtelfinale.
Sieben Eigentore
Besondere Leistungen erbrachte dieses Trio: Der Spanier Lamine Yamal wurde zum jüngsten Spieler der EM (16 Jahre, 338 Tage), der Portugiese Pepe zum ältesten (41 Jahre, 113 Tage) und der Kroate Luka Modric zum ältesten Torschützen (38 Jahre, 289 Tage). Es gab schon sieben Eigentore, teils auf skurrile Art und Weise zustande gekommen. Dazu 14 Weitschusstreffer, mitunter wunderschön anzuschauen. Der moderne Ball fliegt halt kunstvoll, wer damit umgehen kann. Insgesamt sind 81 Tore bestaunt worden, das sind nur 2,25 im Schnitt. Zehn davon fielen nach der 90. Minute. Der Schlenzer von Mattia Zaccagni in der achtminütigen Nachspielzeit für Italien sorgte für die meisten Tränen im ersten EM-Kapitel.
Unrühmlicher Rekord der EM-Geschichte
Die Verschwörungstheorie des Trainers Zlatko Dalic waren eine Ausnahme. Die meisten Kollegen gaben sich als faire Verlierer, die neue Abstandsregel für die Spieler gegenüber den Referees zeigte positive Effekte. Lange war die Rote Karte gegen den Schotten Ryan Porteous im Eröffnungsspiel gegen Deutschland der einzige Platzverweis, ehe das letzte Gruppenspiel zwischen Tschechien und Türkei mit 18 Gelben und zwei Roten Karten einen unrühmlichen Rekord in der EM-Geschichte bedeutete. Hoffentlich kein Trend, wenn es in den K.-o.-Spielen um noch mehr geht.