Politik
Verfassungsschutz wird 75: Selen sieht verschärfte Lage
Wo der Verfassungsschutz im Jubiläumsjahr die größten Bedrohungen sieht – und warum Früherkennung und klare Prioritäten für den neuen Behördenchef Selen jetzt entscheidend sind.
Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, die Demokratie zu schützen. Der Hauptsitz der Behörde ist in Köln. (Symbolbild)
Foto: Oliver Berg
Spionage und Sabotage zählt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Sinan Selen, aktuell zu den größten Bedrohungen, um die sich der Inlandsgeheimdienst kümmern muss. Auf die Frage, wie sich die Schwerpunkte seit 2015 verändert hätten, antwortete der BfV-Chef der Deutschen Presse-Agentur: „Die Sicherheitslage hat sich in den vergangenen zehn Jahren in der Tat verschoben und verschärft.“
Die aktuellen Herausforderungen erforderten eine klare Fokussierung und Priorisierung, sagte der Leiter der Kölner Behörde, die ihr 75-jähriges Bestehen an diesem Montag mit einem Festakt im Bundesinnenministerium in Berlin feiert. „Wir werden künftig stärker nach folgendem Grundsatz verfahren: Prävention, Detektion und Disruption.“
Sinan Selen ist seit dem 8. Oktober Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Vorher war er Vizepräsident der Sicherheitsbehörde. (Archivbild)
Foto: Kay Nietfeld
Schwerpunkte seien „multipolare Bedrohungen“, Spionage, Sabotage, Cyberangriffe, internationaler Terrorismus und gewaltbereiter Extremismus, fügte er hinzu. Wichtig sei die Früherkennung von Netzwerken und Aktionen sowie die Identifizierung von Akteuren und denjenigen, die im Hintergrund die Strippen ziehen.
Sorge vor kommunistischer Unterwanderung
Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde am 7. November 1950 vor dem Hintergrund des Kalten Krieges gegründet. Die westalliierten Besatzungsmächte – Frankreich, Großbritannien und die USA – genehmigten der jungen Bundesrepublik damals den Aufbau eines Nachrichtendienstes zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie untersagten dem Inlandsgeheimdienst jedoch mit Blick auf die deutsche Geschichte in der Zeit der Nazi-Herrschaft ausdrücklich jede Form von Polizeibefugnissen.
Trennung zwischen Polizei und Nachrichtendienst
Dieses sogenannte Trennungsgebot wirkt bis heute fort. Zwischen den Nachrichtendiensten und der Polizei werden Informationen zu konkreten Sachverhalten, bei denen es um islamistischen Terrorismus beziehungsweise rechte, linke oder auslandsbezogene extremistische Gewalt geht, dennoch ausgetauscht: Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin und dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ).
Arbeit im Verborgenen
Mit dem Slogan „Im Verborgenen Gutes tun!“ warb der Verfassungsschutz früher um neue Mitarbeiter. 2021 erschien das nicht mehr zeitgemäß. Seither wendet sich die Sicherheitsbehörde, die ihren Hauptsitz in einem schmucklosen Zweckbau im Kölner Norden hat, mit der Botschaft „Im Auftrag der Demokratie“ an potenzielle Bewerberinnen und Bewerber.
Aufklärung extremistischer Netzwerke
Selen, der vor seiner Ernennung zum BfV-Chef Vizepräsident der Behörde war, beschreibt die Aufgabe so: „Das Bundesamt für Verfassungsschutz verfolgt seit 1950 im Auftrag der Demokratie eine doppelte Stoßrichtung: Als Abwehrdienst verteidigen wir die Sicherheitsinteressen des deutschen Staates vor inneren und äußeren Gefahren und dienen zugleich den Schutz- und Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger.“ Die Informationen und Analysen des Bundesamtes seien häufig Grundlage für Verbote von Vereinen oder Vereinigungen, deren Aktivitäten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet seien.
„Festnahmen und oftmals dann auch sich anschließende Verurteilungen von Extremisten und Terroristen wären in vielen Fällen ohne den Verfassungsschutz nicht möglich“, betont Selen. Im Cyberraum unterstütze seine Behörde dabei, große internationale Propagandaplattformen zu identifizieren und zu stoppen. Eine weitere Aufgabe des Bundesamtes sei es, vor Cyberakteuren, die Deutschland täglich angriffen, öffentlich zu warnen.

Nachdem der rechtsterroristische NSU im November 2011 aufgeflogen war, mussten Polizei und Verfassungsschutz viele kritische Fragen beantworten - auch in verschiedenen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. (Archivbild)
Foto: Hendrik Schmidt
Nach der NSU-Mordserie
Zu den unrühmlichen Kapiteln in der Geschichte des Bundesamtes zählt die sogenannte Schredder-Affäre. BfV-Präsident Heinz Fromm bat im Juli 2012 um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Zuvor war bekanntgeworden, dass Verfassungsschützer im November 2011, kurz nach dem Auffliegen der Neonazi-Terrorzelle NSU, Akten zur rechten Szene vernichtet hatten. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hatte aus rassistischen Motiven neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordet.
Beobachtung der AfD
Auch wenn das Verhältnis zwischen dem Verfassungsschutz und der Partei Die Linke bis heute nicht spannungsfrei ist: Von den im Bundestag vertretenen Parteien hat aktuell wohl die AfD die meisten Probleme mit der Behörde. Das BfV hatte die Partei Anfang Mai vom Verdachtsfall zur „gesichert rechtsextremistischen Bestrebung“ hochgestuft. Dagegen geht die AfD juristisch vor.
Bis zu einer noch ausstehenden Gerichtsentscheidung in dieser Sache hat der Verfassungsschutz die Höherstufung daher wieder auf Eis gelegt. Mit einer Klage gegen die Einstufung als Verdachtsfall, die bereits eine Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln gestattet, war die Partei vor Gericht gescheitert.