Bremerhaven

Schiffdorfs Leuchtturm: Erfolgstheater aus dem Bahnhof

Kultur kann junge Leute aufs Land locken. Kultur auf dem Dorf kann zum Leuchtturm für die Region werden. Ein Musterbeispiel dafür ist die Dokumentartheatergruppe Das Letzte Kleinod, die 1992 die Eisenbahn für sich entdeckt hat.

Juliane Lessen, Jens-Erwin Siemssen

Mit dem ozeanblauen Zug haben sich die Theatermacher Jens-Erwin Siemssen und Juliane Lenssen ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen, das international Publikum anlockt. Das Dokumentartheater Das Letzte Kleinod hat im Bahnhof Geestenseth einen idealen Standort gefunden und ist von dort immer wieder auf Achse. Foto Wagner Foto: Ingo Wagner

„Ich bin ja Bremerhavener“, darauf weist Kleinod-Chef Jens-Erwin Siemssen schmunzelnd hin. „Doch in Bremerhaven hätten wir unsere Idee von Theater nicht verwirklichen können.“ Siemssen hat in Stuttgart Figurentheater, in Amsterdam Objekttheater studiert. Mit seiner Partnerin Juliane Lenssen entdeckte er das ortsspezifische Theater - weg von der festen Bühne - als künstlerische Ausdrucksform. „Uns war bald klar, dass wir mobiles Eisenbahntheater machen wollten.“

Der Bremerhavener Bahnhof indes erwies sich als ungeeignet: kein freies Abstellgleis, kein Betriebsgebäude, viel Bundesbahn-Bürokratie und Kompetenz-Wirrwarr. „Also sind wir von Wulsdorf, wo meine Mutter wohnt, per Bahn ins Elbe-Weser-Dreieck ausgeschwärmt.“ Die Suche dauerte nicht lang, 19 Bahnminuten weiter wurde das Kleinod-Team bald fündig.

Juliane Lessen, Jens-Erwin Siemssen

Mit dem ozeanblauen Zug haben sich die Theatermacher Jens-Erwin Siemssen und Juliane Lenssen ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen, das international Publikum anlockt. Das Dokumentartheater Das Letzte Kleinod hat im Bahnhof Geestenseth einen idealen Standort gefunden und ist von dort immer wieder auf Achse. Foto Wagner Foto: Ingo Wagner

Das alte Bahnhofsgebäude in Geestenseth, das abgerissen werden sollte, war gerade unter Denkmalschutz gestellt worden. Es wurde zum idealen Domizil, bot Platz für Büro- und Atelierräume. Bei der EVB, der privaten Bahngesellschaft in Bremervörde, fanden sich aufgeschlossene Ansprechpartner. Auch bei der Gemeinde Schiffdorf fand Das Letzte Kleinod Unterstützung. „Die enge Verzahnung, Übersichtlichkeit und schnelle Kommunikation vor Ort sprechen für den ländlichen Raum“, betont Siemssen.

Der Weg in die niedersächsische Fläche hatte überdies den Vorteil von vier Fördermöglichkeiten: Gemeinde, Landkreis, Landschaftsverband und Land. „Ohne das Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Hannover, das uns seit 1992 dauerhaft finanziell unterstützt, hätten wir es nicht geschafft. Viele Beamte dort fühlten sich offenbar an die Modelleisenbahn ihrer Kindheit erinnert und vertrauten uns.“ Heute müsse er die ständige Förderung nur noch alle drei Jahre beantragen, bemerkt Siemssen. Einen weiteren Anschub gab das Förderprogramm „Dorferneuerung“.

Fünf Waggons vom Schrotthändler

Das Tolle auf dem Dorf sei überdies die Mund-zu-Mundpropaganda. „Schon bald kam ein Anruf von der anderen Weserseite: ,Ihr sucht doch Eisenbahnwaggons.‘“ Ein Ortsbürgermeister stellte die Verbindung zu einem Schrotthändler her, der in Hamburg ein ganzes Lager von 150 Waggons besaß. Siemssen erinnert sich genau: „600 Euro pro Waggon, das war ein Schnäppchen. Wir haben alles Geld zusammengekratzt und fünf Waggons gekauft.“ Eigentlich zu wenige: „Was wir später bei der Deutschen Bahn nachkauften, kostete erheblich mehr.“

Seitdem hatte Das Letzte Kleinod ein festes Theater - auf Rädern. Für einzelne Stücke werden auch immer wieder Waggons angemietet: Kohlewaggons etwa oder Autotransporter. Der Theaterchef gibt indes auch zu: „Damals genügten noch das Nicken und die Lauffähigkeitsbescheinigung eines Wagenmeister, um einfach loszufahren. Inzwischen ist das, mit festen Instandhaltungsterminen, komplizierter und teurer.“

Das Letzte Kleinod mit "Amerikalinie"

Mit „Amerikalinie“, dem zweiten Stück zum Abschied vom Columbusbahnhof ist Das Letzte Kleinod derzeit auf Tournee. Ab 12. Oktober ist das Stück in Bremerhaven zu sehen. Foto Das Letzte Kleinod Foto: Das Letzte Kleinod

Finanziell steht das mobile Theater auf festen Füßen. Es gibt eine Stammcrew von zwei bis vier Leuten, für die einzelnen Produktionen werden Honorarkräfte engagiert. Auch Preisgelder helfen regelmäßig weiter, durch den Theaterpreis des Bundes 2016 wurden auch andere Jurys aufmerksam. Bei aller Popularität: „Es ist immer noch wahnsinnig viel Arbeit“, stellt Siemssen fest, der alle seine Stücke selbst recherchiert, schreibt und inszeniert.

Und ein Problem bringt die Kreativität auf dem Land auch noch mit sich: „Obwohl wir mit dem Zug im Stundentakt erreichbar sind, haben wir Mühe, gute Fachkräfte wie Elektriker an uns zu binden.“

Sebastian Loskant
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