„.. wie ich eine nehme und in meine Hand sie lege, sanft und zärtelnd wie ein kleines Kind, denk ich an den Baum und an den Wind, wie er leise durch die Blätter sang - und wie den Kastanien dieses weiche Lied sein muss wie der Sommer, der unmerklich schied...“ - Selma Meerbaum-Eisinger hat sie geliebt, die runden, roten, seidenglatten Runterpurzler, jetzt, um diese Zeit. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, welche aufzulesen - das jüdische, deutsch-rumänische Mädchen aus Czernowitz kam 1942 im Zwangsarbeiterlager um, 18 Jahre „alt“. Ich muss gerade oft an sie denken, lese ihre ebenso leicht- wie schwermütigen, zärtlichen Verse - und bücke mich überall, um die rotbraunen Kugeln „verstreut und müde, braun und lächelnd wie ein weicher Mund...“ aus dem Blättergerauschel zu klauben. Ob all die Entwurzelten in unserer Stadt, die sich zu uns geflüchtet haben, voll Sorge und Sehnsucht nach lieben Menschen, hier den Blick für das Schöne am Herbst haben? Das Welken, das Schwinden - vor allem von Licht - fährt ja schon denen in die Knochen, denen es gut geht. Licht - ein Grundnahrungsmittel. Ich horte es, Minute für Minute. Wie die Kastanien. Jeder einzelnen, die ich daheim auf den Küchentisch lege, geb ich einen hellen Gedanken, an einen Menschen, eine Situation, ein Detail. Eine Kastanie in der Hand zu umschließen, fühlt sich gut an, nach Halt, Wärme, Vertrautheit. Drum versuch ich, keine achtlos zu zertreten, und lege lieber einen kleinen Taschenvorrat an - zum spontan jemandem In-die-Hand-Drücken.

Ab Mitte September purzeln sie wieder und glänzen seidenmatt rotbraun im Herbstlaub: Kastanien aufzuklauben, gibt ein schönes, warmes Gefühl von Geborgenheit, Vertrautheit. Foto: Schwan