Bremerhaven

Bremerhavener Forscher rücken dem Sprengstoff unter Wasser zu Leib

Vor Deutschlands Küsten liegen Unmengen Munition aus den Weltkriegen im Meer, aus denen gefährliche Stoffe austreten können. Unterwegs mit einem Forschungsschiff auf der Nordsee, auf den Spuren des Gifts.

Die biologisch-technische Assistentin Ute Marx (links) und die Doktorandin Romina Schuster vom AWI sezieren auf dem Forschungsschiff „Heincke“ einen Plattfisch

Die biologisch-technische Assistentin Ute Marx (links) und die Doktorandin Romina Schuster vom AWI sezieren auf dem Forschungsschiff „Heincke“ einen Plattfisch. Sie erforschen die Auswirkungen von versunkener Munition auf Meerestiere und -umwelt. Foto: epd

Ute Marx nimmt Blut ab. Unter ihren blau lackierten Nägeln füllt sich die Spritze rot. Zur Beruhigung hat sie dem Burschen auf ihrem Labortisch ein Stück Küchenkrepp mit Salzwasser auf den Kopf gelegt. Jetzt setzt Marx ein Messer an: Ein Knacken und das Rückgrat ist durch. Nun wird er seziert. Der Bursche ist ein Plattfisch, eine Kliesche, Oberseite dunkel, Unterseite hell. Ute Marx ist biologisch-technische Assistentin und arbeitet bei dieser Nordsee-Expedition im Februar 2023 auf dem bundeseigenen Forschungsschiff „Heincke“. Über ihrem metallenen Labortisch sitzt ein Bullauge, durch die offene Tür zum Deck dringt Seeluft, im Hintergrund brummt der Antrieb.

Gift im Fisch

Marx und ihre Kolleginnen vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven wollen wissen, ob der Fisch Gift aufgenommen hat und was das für Folgen hätte. Konkret geht es um giftige Stoffe, die aus alter Munition austreten können. Denn vor den Küsten liegen auf dem Meeresboden zuhauf Granaten, Torpedos, Minen, Bomben. Auf bis zu 1,6 Millionen Tonnen schätzten Fachleute 2011 das Erbe vor allem der beiden Weltkriege allein in der deutschen Nord- und Ostsee.

Sprengkörper können grundsätzlich auch nach langer Zeit unter Wasser explodieren. Das birgt Risiken, etwa beim Bau von Windfarmen auf See. Inzwischen rückt noch eine andere Gefahr durch die Munition ins Blickfeld. „Dadurch, dass die Hüllen rosten und die Sprengstoffe mit Wasser in Kontakt kommen, fangen die an, sich zu lösen“, erklärt der Meeresforscher Matthias Brenner. Der Sprengstoff TNT beziehungsweise Umbauprodukte von ihm seien giftig, erregten Krebs und veränderten das Erbgut. Sie könnten „massive Auswirkungen auf Organismen haben“.

Zunehmendes Problem

Brenner ist als Kollege von Marx mit auf der „Heincke“ unterwegs. Das Kriegserbe beschäftigt den Wissenschaftler des AWI seit Jahren. Immer wieder ist er rausgefahren, hat Proben von Wasser und Sediment gesammelt, Fische und Muscheln untersucht. Sprengstofftypische Verbindungen hätten sich mittlerweile großflächig verteilt, stellt der Biologe fest. Er baut dabei auf Untersuchungen von Wissenschaftlern des Kieler Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung. „In der Ostsee konnte man das schon zeigen, dass das eigentlich überall im Wasser vorhanden ist. In Spuren, aber es ist da.“ Auch in Fischen seien bisher zwar nur Spuren aufgetaucht und Verbraucher müssten sich noch keine Sorgen machen. Aber Brenner hat wiederholt krankhafte Veränderungen in Meerestieren gefunden, die zu den Giftbelastungen passten. Und je mehr Munition verroste, desto mehr Sprengstoff werde frei: „Das Problem wird zunehmen.“

DSM koordiniert internationales Projekt

Die Fahrt der „Heincke“ gehört zum EU-geförderten und vom Deutschen Schifffahrtsmuseum koordinierten Projekt „North Sea Wrecks“ („Wracks in der Nordsee“). Forscher aus verschiedenen Ländern nehmen von Belgien bis Norwegen Schiffswracks, die Munition an Bord haben, unter die Lupe. Das Projekt ist wiederum nur eines in einer Reihe von Arbeiten zu Munition im Meer. In einer Zusammenfassung der zahlreichen Forschungsarbeiten zum Thema schrieb die „Deutsche Allianz Meeresforschung“ im Oktober, die Kampfmittel seien „eine Bedrohung für die Meeresumwelt und ein Nachhaltigkeitsrisiko für die Bewirtschaftung der Meere“.

In der Bundespolitik ist das Thema ebenfalls angekommen. Sprengstofftypische Verbindungen und andere Munitionsschadstoffe könnten in unsere Nahrungskette gelangen, warnte Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) im Februar. Die Munition sei auch ein Risiko für Fischerei, Schifffahrt, Tourismus und den Ausbau der Windkraft auf See. Damit gab Lemke den Startschuss für ein Pilotprojekt zur Bergung und Vernichtung von Altmunition. 100 Millionen Euro stehen dafür bereit.

Schicksal der „SMS Ariadne“

Wie ist das gefährliche Zeug ins Meer gelangt? Ein Gutteil wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Meer versenkt. Zu groß war die Last an Land, die See schien ein Ausweg, das Umweltbewusstsein von heute fehlte. Weitere Munition wurde als Minensperre gelegt, landete als Blindgänger im Wasser oder ging verloren. Oder sie sank im Kampf. So wie im Fall der „SMS Ariadne“, einem Schlachtschiff unter Kaiser Wilhelm II. An einem Augusttag im Jahr 1914 zog der Kleine Kreuzer gegen Großbritannien ins Gefecht bei Helgoland. Als er beschossen wurde und wenig später sank, nahm er einen Teil seiner Munition für mindestens zehn Geschütze und zwei Torpedorohre mit auf den Meeresgrund.

Mehr als 100 Jahre später fährt die „Heincke“ an der „SMS Ariadne“ vorbei und fischt Klieschen - so wie jenen Plattfisch, der auf Ute Marx’ Labortisch gelandet ist. Zuerst besieht sie sich das Entgiftungsorgan Leber. „So, Leber ist geschwollen“, stellt sie fest, sonst „keine Auffälligkeiten“. Genaue Analyse folgt - an Land. Erste Ergebnisse sollen im Frühjahr im Rahmen des Projekts „North Sea Wrecks“ vorgestellt werden. (epd/mcw)

Ute Marx und Matthias Brenner vom AWI füllen Wasserproben aus einem ozeanographischen Gerät ab.

Ihr Forschungsthema gehen Ute Marx (links) und Matthias Brenner vom AWI mit unterschiedlichsten Mitteln an: Hier füllen sie auf der „Heincke“ Wasserproben aus einem ozeanografischen Gerät ab. Foto: epd

Auf einen Blick

Bomben, Minen, Granaten, Torpedos, Patronen, chemische Kampfstoffe: In den Meeren liegt Munition. Allein für die deutsche Nord- und Ostsee geht eine Schätzung aus dem Jahr 2011 von bis zu 1,6 Millionen Tonnen aus. Ein Großteil wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geplant im Meer versenkt. Ein anderer Teil geht auf Gefechte und Havarien zurück. Munition kann auch nach langer Zeit unter Wasser noch explodieren. Es hat bereits Unfälle mit Toten gegeben. Bei Funden rückt häufig der Kampfmittelräumdienst an, entsorgt sie an Land oder sprengt im Meer. Eine Meldestelle in Cuxhaven führt Buch. In den vergangenen Jahren rückte eine andere Gefahr in den Fokus: Rost zersetzt Metallhüllen, austretende Stoffe wie TNT gefährden Umwelt und Lebewesen. Forschungsvorhaben wie das vom Deutschen Schifffahrtsmuseum koordinierte „North Sea Wrecks“ („Wracks in der Nordsee“) nahmen sich des Problems an. (epd/mcw)

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