Eva Evans war 14 Jahre alt, als ihre Eltern in der Berliner Wohnung die Gemälde von den Wänden nahmen, Kerzenleuchter verpackten und den gesamten Hausrat in Kisten verstauten, um sie nach Großbritannien zu verschicken. Für die jüdische Familie wurde das Leben unter den Nationalsozialisten immer gefährlicher. Angekommen im Land, das die neue Heimat der heute 99-Jährigen werden sollte, wartete die Familie vergebens auf die Umzugsgüter. Sie sollten Großbritannien via Schiff erreichen. Doch von vielen sogenannten Liftvans - wie die Umzugskisten genannt wurden - kam nur das Handgepäck an. Alle anderen Kisten wurden versteigert, erfuhr Evans erst vor wenigen Wochen. Mehr als ein halbes Jahrhundert später hilft die Britin die Spur der verschwundenen Umzugsgüter wieder aufzunehmen.
„Frau Evans ist die erste Zeitzeugin, die sich aufgrund unserer Forschungen meldete. Sonst tun das die Nachfahren“, sagt Dr. Kathrin Kleibl. Als Provenienzforscherin spürt sie Herkunft und Verbleib enteigneter und versteigerter Umzugsgüter auf. Eva Evans erinnert sich lebhaft daran, wie der Zollbeamte damals in die Wohnung kam und penibel die Listen durchsah. „Ich habe ihr das im Archiv gefundene Versteigerungsprotokoll geschickt, worauf sie mir bei der Identifizierung von einigen Gegenständen helfen konnte. Das war sehr berührend, denn einerseits kann sie ein Stück Familiengeschichte aufarbeiten, andererseits bekommt die Provenienzforschung so wichtige Hinweise“, sagt Kleibl.
In detektivischer Kleinarbeit Tausende Dokumente gesichtet
Seit 2018 untersuchen zwei vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderte Forschungsprojekte am DSM die Prozesse der Enteignung von jüdischen Personen in den Häfen Bremen und Hamburg. Dr. Kathrin Kleibl und Susanne Kiel sichten in detektivischer Kleinarbeit Tausende Dokumente aus den Staatsarchiven in Hamburg und Bremen. Hinweise zu versteigerten Möbeln, Musikinstrumenten, Gemälden und Co. pflegten sie in den vergangenen Jahren in die LostLift-Datenbank (https://lostlift.dsm.museum) ein - die erste und einzige dieser Art bisher. 5.500 Einträge im Personenregister gibt es bereits. Weitere rund 3.200 eingetragene konkrete Fälle kommen dazu. Jeder Eintrag rekonstruiert, entsprechend der Überlieferungssituation, den Weg des Umzugsgutes einer Familie - vom Verlassen der Wohnung mit einem Spediteur bis zur Beschlagnahmung in einer Hafenstadt und schließlich der Versteigerung des Eigentums.
„Wir wollen mit der Datenbank auf diesen wenig aufgearbeiteten Aspekt der Beraubung der Juden im Nationalsozialismus aufmerksam machen und Menschen - vor allem in Bremen und Hamburg - animieren, uns weitere Hinweise zu geben. Gibt es womöglich Erbstücke, die nicht eindeutig aus der Familie stammen, sondern während des Kriegs gekauft wurden“, fragt Kleibl. Die Herkunftsforscherinnen wissen um die perfide Infrastruktur unter den Nationalsozialisten: Fast alle Bürger, kleine Speditionen und Händler waren in die Versteigerungen involviert.
Betrachtet auf den Verlauf der Geschichte kommt die Aufarbeitung jedoch 75 Jahre zu spät. „Was wir machen, hätte schon viel früher geschehen müssen. Aber in der Gründungsphase der Bundesrepublik schwieg man, um mögliche Reparationszahlungen abzuwenden und, um nicht weiter mit der Schuld konfrontiert zu werden“, sagt Kiel. „Wir machen sichtbar, dass auch die ins Ausland geflohenen Menschen Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands gewesen sind.“ (pm/bel)