Sie werden Mega-, Ultra-, Mammut- oder auch Extremmärsche genannt - Wanderveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer in der Regel eine Strecke von 50 bis 100 Kilometer zurücklegen und dafür zwölf beziehungsweise 24 Stunden Zeit haben. So wie Konstanze von Oesen aus Bremerhaven, die im September bei dem Event „Watt läufst du hier“ rund um Cuxhaven an den Start gehen wird. „Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um bei so etwas mitzumachen“, erzählt sie lachend.
Für sie seien diese Wanderungen genau das Richtige. „Ich liebe es, mich zu bewegen und bin gleichzeitig in der Natur. Mal hänge ich beim Gehen meinen Gedanken nach, mal unterhalte ich mich mit einem Wanderkumpel, mal gucke ich einfach in der Weltgeschichte herum“, erzählt die 46-Jährige. Alles mit dem einen Ziel vor Augen: Ankommen. Dieses erhabene Gefühl, wie Konstanze von Oesen es nennt, hatte sie gerade erst wieder vor vier Wochen: Dort überquerte sie nach genau 56,07 Kilometern die Ziellinie vom Marsch zum Meer - und das auch noch in einer starken Zeit von 9:58:08 Stunden.
Nach 110 Kilometern erschöpft, aber glücklich im Ziel
Ihre bisher weiteste Entfernung legte die Mutter zweier Söhne im August vergangenen Jahres in Oldenburg zurück. Beim Nord-Marsch brauchte sie für eine Strecke von 110 Kilometer genau 22 Stunden, sie war von 19 Uhr abends bis 17 Uhr am Folgetag unterwegs. „Ich habe mich unheimlich gefreut, es geschafft zu haben, die Erschöpfung war im Ziel wie weggeblasen“, erinnert sie sich.

„Die muskuläre Beanspruchung ist beim Wandern ganz anders als beim Laufen.“
Was sie durch müde Phasen während ihrer langen Wanderungen trägt, ist unter anderem die Unterstützung durch Familie und Freunde mittels WhatsApp-Nachrichten. Ihre Mutter läuft in Gedanken mit der Tochter. „Beim Zubettgehen wünscht sie mir eine gute Nacht und am nächsten Morgen fragt sie gleich, wie es mir geht und wo ich mittlerweile bin“, erzählt Konstanze von Oesen. Auch Musik helfe ihr, zwischenzeitliche Tiefs zu überwinden. „Dafür habe ich eine spezielle Playlist mit Liedern, deren Rhythmus ich meinen Schritten anpassen kann.“ Stiller Helfer im Hintergrund ist stets ihr Mann Andreas. „Ohne ihn könnte ich gar nicht am besagten Wochenende unterwegs sein“, sagt Konstanze von Oesen.
Goldene Regel: Nie grundlos die Schuhe ausziehen
Während die Lehrerin „kürzere“ Läufe mittlerweile ohne Ruhepausen an den von Veranstaltern eingerichteten Verpflegungsstationen, Blasen an den Füßen und Muskelkater am nächsten Tag wegstecke, hält sie - egal, bei welchem Marsch - an einer goldenen Regel fest. „Ich ziehe nie grundlos die Schuhe aus“, erklärt sie. „Die bekomme ich sonst gefühlt nie wieder an.“
Vor ihrer Extremwander-Premiere vor einigen Jahren schwirrten Konstanze von Oesen viele Fragen durch den Kopf: Schlafen die Teilnehmer zwischendurch? Wie schnell muss man im Durchschnitt etwa sein? Wann habe ich körperlich eine Grenze erreicht? Für sie als bis dato Joggerin war klar: Das möchte ich ausprobieren. Auch wenn sie bereits wusste: „Die muskuläre Beanspruchung ist beim Wandern ganz anders als beim Laufen.“ Vor vier Jahren ergatterte die Bremerhavenerin ein Ticket für den 100-Kilometer-Megamarsch auf Sylt. Als Einstimmung dienten ihr zwei individuelle 20-Kilometer-Strecken entlang der Geeste und zwei 30-Kilometer-Deichläufe sowie eine Wanderveranstaltung mit einer Freundin über 25 Kilometer in Oldenburg. „Eine etwas kurze Vorbereitung vielleicht“, sagt sie rückblickend und schmunzelt dabei.
Beim dritten Versuch auf Sylt soll es in diesem Jahr klappen
Mit Sylt hat Konstanze von Oesen seitdem noch eine Rechnung offen. Bei ihrem Debüt auf Westerland im Oktober 2019 spielte der Wettergott überhaupt nicht mit: Kälte und Regen setzten nicht nur der Bremerhavenerin stark zu. „Das Wasser kam von überall, nicht nur von oben, dazu noch kräftiger Gegenwind“, erinnert sie sich. Nach 40 Kilometern spürte sie die erste Blase in den durchnässten Schuhen, bei Kilometer 62 ging nichts mehr. „Ich hatte meine körperliche Belastungsgrenze erreicht“, erzählt Konstanze von Oesen. Um ein Uhr nachts brach sie ihre Challenge nach 13 Stunden ab und ein Shuttle fuhr sie zurück ins Hotel.
Groß enttäuscht sei sie jedoch nicht gewesen, im Gegenteil: Ihr Ehrgeiz war geweckt. „Es war mein erster Versuch und ich habe gemerkt, dass es möglich ist“, sagt sie. Seitdem hat die 46-Jährige nicht nur emsig weitertrainiert, sondern auch an rund 20 Ultra-Märschen überwiegend in Norddeutschland teilgenommen. „Im Schnitt bin ich so alle vier bis sechs Wochen bei einer Veranstaltung“, berichtet sie. Am 21./22. Oktober geht Konstanze von Oesen auch wieder auf Sylt an den Start. Nachdem sie die Mammutwanderung im vergangenen Jahr ein zweites Mal bei Kilometer 82 aufgrund muskulärer Probleme abbrechen musste, will sie es in diesem Jahr wissen und die Insel unbedingt als Finisher verlassen. „Dreimal ist schließlich Bremer Recht“, sagt sie lachend.
Söhne auch schon mit ihrer Wanderbegeisterung angesteckt
Nach der 100-Kilometer-Herausforderung im Herbst ist für Konstanze von Oesen allerdings noch lange nicht Schluss. „Ich möchte neue Läufe und neue Orte entdecken“, sagt sie. Bei ihrer Kalenderplanung fürs kommende Jahr denkt sie beispielsweise an den Megamarsch im Weserbergland („Höhenmeter überwinden zu müssen, wäre noch einmal eine neue Herausforderung“), den „Extrem-Extrem“ über 150 Kilometer im Sauerland oder den „Kölnpfad“, bei dem 171 Kilometer zurückgelegt werden („Einfach nur abgefahren“).
Auch ihren Nachwuchs hat die Lehrerin mit ihrer Wanderbegeisterung angesteckt. Sohn Nikolas, mit knapp zwölf Jahren bereits langjähriger „Laufsammler“ in Bremerhaven und umzu ist Anfang Juni gemeinsam mit seiner Mutter in Hamburg an den Start gegangen, bevor es für die zwei und den 16-jährigen Sohn Florian Ende September noch zu einer Volkswanderung über insgesamt 30 Kilometer an zwei Tagen nach Fulda geht. „Nikolas hat das in Hamburg ganz toll gemacht“, erzählt Konstanze von Oesen freudestrahlend. Für eine Strecke von 25 Kilometern haben die beiden 6,5 Stunden gebraucht. „Uns ist nicht ein bisschen langweilig geworden“, erzählt sie. „Wir haben uns beim Wandern über alles möglich unterhalten. Wann hat man im Alltag sonst die Zeit und Ruhe dafür?“