Hafenserie

Mann für alle Fälle: Warum ein 67-jähriger Logistiker nicht in Rente gehen will

Winfried Karcher könnte längst im Ruhestand sein. Doch der 67-Jährige, der seit 1979 bei der Stauerei Heinrichs arbeitet, mag noch nicht aufhören. Seinem Chef ist das recht: Er möchte seinen Problemlöser nicht entbehren. Wer ist dieser Alleskönner?

Konecranes-Greifstapler hebt einen Container hoch

Auf dem Werksgelände von Heinrichs Logistic im Überseehafen muss man stets aufpassen, wo man herumsteht, will man nicht ungewollt unter die Räder geraten.

Foto: Lothar Scheschonka

Auf dem Werksgelände von Heinrichs Logistic im Überseehafen muss man stets aufpassen, wo man herumsteht, will man nicht versehentlich unter die Räder geraten. Permanent brausen Gabelstapler hupend und aus allen Richtungen kommend an einem vorbei. Sie bewegen große Holzkisten, mit unterschiedlichsten Gütern beladene Paletten, verschiedene Schiffs- und Motorteile und anderes abgepacktes Frachtgut, das von den Schiffen an den Terminals per Lkw auf den Betriebshof gebracht wurde - oder in umgekehrter Richtung transportiert werden soll.

Winfried Karcher streift schweigend und mit schlafwandlerischer Sicherheit durch das hektische Gewusel, das Dröhnen der Lkw- und Staplermotoren um ihn herum beachtet er gar nicht. Auch die beiden einschüchternden, 40 Tonnen schweren Konecranes-Greifstapler, die über das Gelände donnern und mit ihren massiven Hydraulik-Armen unentwegt Container in großer Höhe hin und her tragen, können den 67-Jährigen nicht schrecken. Einmal läuft Karcher fast direkt unter einem Container hindurch. Vom Boden aus betrachtet sieht es so aus, als schwebe die massive Stahlbox frei über ihn hinweg.

Unfallautos hat Winfried Karcher häufiger auf dem Hof

Doch Winfried Karcher hat dafür keinen Blick, er will zu einem anderen Container am Boden, den zwei Kollegen gerade mit einem Bolzenschneider entkettet und geöffnet haben. Sachte zieht ein Stapler einen demolierten, anthrazitfarbenen VW Tiguan Kombi aus dem Container. Ein Kotflügel ist völlig verbeult, die Vorderachse gebrochen. Das linke Vorderrad hängt lose aus dem Radkasten. In der Fahrgastzelle hängt ein weißer Airbag schlaff am Lenkrad herab. An den Seitentüren baumeln weiße Schleifen, wie man sie als Hochzeitsdekoration kennt.

„Container mit Unfallautos haben wir hier häufiger auf dem Hof“, sagt Winfried Karcher nüchtern. „Vermutlich sind die Besitzer mit ihrem Pkw in den Urlaub gefahren und hatten dort einen Unfall. Und jetzt bekommen sie auf dem Seeweg ihr zerstörtes Fahrzeug zurück.“ Karcher inspiziert das Wrack kurz und zieht dann ungerührt weiter zum nächsten Container, um zu prüfen, ob die Fracht vorschriftsmäßig gesichert ist.

Der Mann für alle Fälle, Winfried Karcher, gehört seit 44 Jahren zum Unternehmen. Der 67-Jährige ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

Der Mann für alle Fälle, Winfried Karcher, gehört seit 44 Jahren zum Unternehmen. Der 67-Jährige ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

Foto: Lothar Scheschonka

In seinen 44 Dienstjahren hat der gelernte Kfz-Mechaniker einiges gesehen und erlebt. Aus der Ruhe gebracht hat ihn kaum etwas. Genau das schätzt der Geschäftsführer von Heinrichs Logistic, Andreas Harms, an ihm: „Die Arbeit bei uns in der Logistik kann häufig sehr hektisch und stressig sein. Es treten unerwartete Probleme auf. Und immer drängt die Zeit. Aber egal, wie die Dinge stehen, Winfried hat stets die Ruhe weg und findet für alles eine Lösung“, sagt der 54-Jährige anerkennend.

Am meisten beeindruckt Harms das beispiellose Engagement Karchers, seine Anpackmentalität und Flexibilität. „Er ist immer da, wenn ich ihn brauche, erledigt jeden Auftrag zuverlässig und ist insgesamt ein großes Vorbild für alle Mitarbeiter“, sagt Harms. Er mag gar nicht daran denken, dass Karcher irgendwann in den Ruhestand geht: „Um ihn zu ersetzen, bräuchte ich gleich drei neue Mitarbeiter.“

Seit 1979 arbeitet Winfried Karcher bei Heinrichs in Bremerhaven und hat sich in dieser Zeit praktisch unentbehrlich gemacht. Angefangen hatte er als Betriebsschlosser, war zunächst für die Wartung der Gabelstapler zuständig. Heinrichs war damals noch eine reine Stauerei, also ein Unternehmen, das auf die Sicherung von Gütern auf Schiffen spezialisiert ist.

Die Gabelstapler waren praktisch im Dauereinsatz

1992 fusionierte Heinrichs mit der Stauerei August Sundmäker, die fast 60 Jahre nach der Heinrichs Stauerei gegründet worden war. In den folgenden Jahrzehnten machte sich das Gemeinschaftsunternehmen einen Namen mit dem Stauen und Sichern von Gütern an Bord von Break-Bulk-Schiffen und Ro-Ro-Carriern in Deutschland und weltweit. Heute arbeiten rund 450 Mitarbeiter für die in Bremen ansässige Heinrichs Holding GmbH, zu der neben der Stauerei und Heinrichs Logistic sieben weitere Gesellschaften gehören. Als Winfried Karcher 1979 zur Stauerei stieß, war der Fuhrpark, der ursprünglich nur aus einem einzigen Gabelstapler bestand, auf stattliche 20 Stapler angewachsen. Auf Karcher wartete vom ersten Tag an jede Menge Arbeit: „Die Stapler waren praktisch im Dauereinsatz und wurden sehr stark beansprucht“, erinnert er sich. „Ständig leckten die Hydraulik-Zylinder und mussten ausgebaut, zerlegt, neu abgedichtet und wieder zusammengesetzt werden.“

Auch kleinere Maschinen wie Motorsägen und elektronische Kettenscheren, die die Stauer zum Herstellen von Holzkisten, Paletten und Verschlägen für die Fracht dringend brauchten, mussten bei Schäden zügig repariert werden. Winfried Karcher arbeitete sechs Tage in der Woche. War Not am Mann, musste er auch mal sonntags ran. Gestört hat ihn das nie: „Ich habe meine Arbeit immer sehr gerne gemacht. Und mir war wichtig, dass der Laden läuft“, sagt Karcher, der mit einer Dorumerin verheiratet ist und eine Tochter hat.

In den folgenden Jahrzehnten übernahm der 67-Jährige immer mehr Aufgaben, unter anderem arbeitete er viele Jahre als Stauer auf den ankommenden oder abfahrenden Schiffen. „Das waren die goldenen Zeiten im Hafen“, erinnert sich der Alleskönner, „als noch hauptsächlich Stückgutfrachter ankamen. Da war stets viel los, es gab immer Arbeit, aber mit deutlich weniger Zeitdruck als heute.“ Insgesamt sei es entspannter zugegangen auf den Terminals, das Miteinander unter den Arbeitern sei herzlicher gewesen.

Die Arbeit ist wahnsinnig anstrengend, der Körper spielte nicht mehr mit

Karcher wurde damals meistens auf Autotransportern eingesetzt, die Pkw, Lkw und Bagger brachten oder mitnahmen. Aber auch Stahl, Holz und anderes Schwergut hat er viele Jahre gelascht. Heute arbeitet Karcher nicht mehr in der Stauerei. „Diese Arbeit ist wahnsinnig anstrengend, mein Körper hat das irgendwann einfach nicht mehr mitgemacht.“ 2017 wechselte er in die Logistik und kehrte auf den Werkshof von Heinrichs zurück, wo er bis heute von seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz als Stauer profitiert. Etwa dann, wenn es um die fachgerechte Sicherung von Autos und anderen Fahrzeugen in den Containern geht.

„In der Regel werden Fahrzeuge als Ro-Ro-Ladung verschifft“, sagt Winfried Karcher, während er einen letzten prüfenden Blick in einen Spezialcontainer wirft, in dem drei nagelneue Pkw der oberen Preisklasse untergebracht sind. „Aber immer öfter werden dafür auch Container genutzt. Das ist zwar etwas teurer, dafür aber auch sicherer, weil die Autos vor Witterung geschützt sind und nicht durch nebenstehende Fahrzeuge oder Fracht beschädigt werden können.“

Zwei der Autos in dem Spezialcontainer haben die Logistiker hintereinander platziert, das dritte über Rampen an der Vorderseite angehoben und schräg versetzt verstaut. So wird der Platz in dem Container optimal ausgeschöpft. „Damit die Fahrzeuge in dem Container gesichert sind, werden sie über die Felgen mit Sicherungsösen an den Seitenwänden festgezurrt“, sagt Karcher und zeigt auf eine sogenannte spanische Winde - ein zwischen dem Rad und der Containerwand gespanntes Seil, das mit einem hölzernen Törnknüppel so lange verdreht wird, bis durch das Zusammenziehen eine enorme Spannung entsteht. „Wird das an allen vier Rädern gemacht, steht das Fahrzeug unverrückbar und bombenfest“, sagt Winfried Karcher.

Nur wer Geld sparen will, greift noch zu Seilen

Die Spanische Winde sei schon zu seiner Zeit als Stauer das Verfahren der Wahl gewesen, um Fahrzeuge zu laschen. Heute würden in der Regel eher professionelle Gurtbänder mit Klapplaschen genutzt. „Nur wer Geld sparen will, greift noch auf die billigeren Seile zurück“, sagt Karcher und lacht. „In Zeiten klammer Kassen und steigender Kosten kommt das zuletzt aber immer öfter vor.“ Die Sicherungen der Autos im Spezialcontainer halten Karchers kritischer Prüfung indes stand, der Container wird wieder verschlossen und kann nun abtransportiert werden.

Für Winfried Karcher geht damit ein verhältnismäßig ruhiger Arbeitstag zu Ende. Wie lange er den Job als Logistiker bei Heinrichs noch machen wird, weiß er selbst nicht. „Der Plan ist, erst mal bis 2025, danach sehen wir weiter“, sagt er in seiner gewohnt bescheidenen Art. So richtig nach Abschied klingt das noch nicht.

Spanische Winde

Winfried Karcher kontrolliert, ob das Fahrzeug im Container gut gesichert ist. Ein zwischen dem Rad und der Containerwand gespanntes Seil wird mit einem hölzernen Törnknüppel so lange verdreht, bis eine enorme Spannung entsteht. Das ist eine sogenannte Spanische Winde.

Foto: Lothar Scheschonka

In den Hallen der Stauerei ist auch so manches Schätzchen auf vier Rädern zu finden.

In den Hallen der Stauerei ist auch so manches Schätzchen auf vier Rädern zu finden.

Foto: Lothar Scheschonka

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