Vorlesen verbreitet einen besonderen Zauber - bei Kindern, wenn sie plötzlich still sitzen, bei hochbetagten Frauen, wenn sie gebannt lauschen. Meine Schwester und ich haben die Spadener Tagespflege „Mitten im Leben“ wieder für eine Vorlesestunde besucht. Als wir ankamen, saßen alle im großen Kreis, winkten strahlend - was für eine Begrüßung. Im Dezember hatten wir dort Weihnachtsgeschichten vorgetragen, die Damen schwelgten in Erinnerungen. Diesmal hatten wir Kurzgeschichten dabei, im Internet sind wir auf „31 kurze Geschichten, die du in 1 Minuten vorlesen kannst“ gestoßen. Ideal, denn über 80-Jährige können oft nicht lange zuhören. Das sollten sie auch nicht, wir wollten mit ihnen schnacken. Und sie hatten so viel mitzuteilen. Nach einer Geschichte über ein verlassenes Kätzchen erzählten sie, wie viel Spaß sie mit ihrer Katze, ihrem Hund hatten, was Haustiere ihnen bedeuten. Und alle lachten, welchen Unsinn Fellnasen verzapfen. In einer anderen Geschichte ging es um Mut, mal Nein zu sagen. Da konnten fast alle etwas beitragen, denn die Frauen ihrer Generation waren für die Familie da, vergaßen ihre Bedürfnisse. Eine Dame stand oft auf, lief herum. „Das macht sie immer, die kommt gleich wieder“, verrieten uns die anderen - wie gelassen sie mit Demenz umgehen. In den nächsten Geschichten ging es um Hilfsbereitschaft, was sie alle kennen, und die wahre Liebe. Plötzlich plauderten die Frauen über ihre Ehemänner - die Herren der Schöpfung kamen nicht gut weg, verschwörerisch nickten sie sich zu. Aus einer Vorlesestunde wurden fast zwei. Sie wollten uns gar nicht gehen lassen. Wir kommen wieder - Ehrenwort.